Statement: Prof. F. J. Radermacher zur Situation in der Ukraine

Bezug: Vortrag und Medienecho bei den Königsbronner Gesprächen am Sa. 09.04.2022

Ich habe am Samstag, den 09. April 2022, den Festvortrag bei den 09. Königsbronner Gesprächen gehalten. Initiator und Organisator dieser Gespräche ist der langjährige Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter (CDU).


Gegenstand der Veranstaltung war Klimaaußenpolitik. Im Verlauf der Debatte wurde dann auch auf die Ukraine-Krise eingegangen. Aus dem Publikum heraus wurde ich gebeten, etwas zu möglichen Verhandlungsoptionen/-positionen für einen Frieden zu sagen. Ich konnte meine Sichtweise aber nicht darlegen, da ich schon bei meinem historischen Rückblick durch den Moderator unterbrochen wurde. Offenbar hat diese Situation zu massiven Missverständnissen geführt. Ich stelle deshalb nachfolgend meine Positionen und Anliegen kompakt dar, auch als Informationsquelle für interessierte Personen.

Vorbemerkung

Ich äußere mich als Beobachter des aktuellen Geschehens. Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg versuche ich die handelnden Personen auf den verschiedenen Seiten zu verstehen und friedensfähige Lösungen zu finden. Für das Verstehen sind die historischen Fakten, zumindest über die letzten zwei Jahrhunderte, von zentraler Bedeutung, ebenso geopolitische Gegebenheiten.
In der Analyse geht es mir insbesondere darum, wie eine gefährliche, ein großes Eskalationspotential beinhaltende Situation, durch kluges Verhalten und zustimmungsfähige Kompromisse evtl. in einer Weise bewältigt werden kann, die für die Beteiligten und die Welt gute Perspektiven für die weitere Zukunft eröffnet.

  1. Die Staatlichkeit der Ukraine steht außer Frage, auch wenn es sie erst seit einigen Jahrzehnten gibt. Klar ist auch, dass der russische Angriff auf die Ukraine einen eklatanten Bruch des Völkerrechts darstellt.
  2. Das Wichtigste ist in der jetzigen Lage das Bemühen um einen tragfähigen Frieden. Das ist entscheidend für die Zukunft der Ukraine, aber auch für die Zukunft Russlands. Russland hat als Supermacht für die Zukunft der Welt eine extreme Bedeutung.
  3. Der Ukraine wurde die Staatlichkeit in der Historie lange vorenthalten, weil andere Staaten das Land der heutigen Ukraine und die dortige Bevölkerung für sich reklamierten. Den Kurden (etwa 40 Millionen Menschen) geht es bis heute immer noch so (vgl. Anhang). Russland, das osmanische Reich, Österreich-Ungarn, Polen und auch Preußen und Deutschland waren in den letzten 200 Jahren wesentliche Akteure bei der Verhinderung einer eigenständigen Staatlichkeit der Ukraine.
  4. Die Ukraine, die eine eigenständige Kultur und Historie besitzt, existierte seit 1922 als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik als Teil der neu gegründeten Sowjetunion, nicht als unabhängiger Staat. Die Sowjetunion hat dann 1991 die Ukraine in eine eigene Staatlichkeit entlassen, dies verbunden mit der Gründung der Gemeinschaft unabhängiger Staaten, zu der Russland, Weißrussland und die Ukraine gehörten. Die Unabhängigkeit der Ukraine und ihre Eigenstaatlichkeit wurden dann rasch weltweit anerkannt.
  5. Dass Teile eines großen staatlichen Ganzen zu eigenständigen Staaten werden, ist in der Geschichte oft mit Krieg und großen Zerstörungen verbunden gewesen, so bei der Auflösung von Jugoslawien, des osmanischen Reiches und von Österreich-Ungarn.
  6. Wie schwierig das Thema einer Trennung von Teilen eines Staates in Richtung Unabhängigkeit ist, zeigen die aktuellen Konflikte um Katalonien (als Teil Spaniens) und Schottland (als Teil von Großbritannien). Die EU steht bei solchen Fragen, auch aufgrund rechtlicher Gegebenheiten, immer auf der Seite ihrer Mitgliedsstaaten, nicht auf der Seite derjenigen, die sich unabhängig machen wollen. Proklamierte Freiheit ist in diesem Kontext kein Argument.
  7. Historisch ist das vielleicht eindrücklichste Beispiel für die Verhinderung von Unabhängigkeit der amerikanische Bürgerkrieg 1861-1865. Die meisten südlichen Mitglieder der Vereinigten Staaten unternahmen 1861 wegen gravierender politischer Meinungsverschiedenheiten mit den übrigen Mitgliedsstaaten den koordinierten Versuch, sich durch Austritt aus den Vereinigten Staaten und Gründung einer Konföderation staatlich selbständig zu machen. Dies wurde vom Norden nicht akzeptiert und führte zum amerikanischen Bürgerkrieg/Sezessionskrieg (1861 – 1865). Es war dies ein langer und blutiger Krieg, der mit dem Sieg des Nordens endete. Die Mitglieder der Konföderation des Südens wurden gezwungen, wieder Teil der Vereinigten Staaten zu werden und ihre Ambitionen auf eine eigene Staatlichkeit aufzugeben.
  8. Die Auflösung der Sowjetunion erfolgte friedlich – ohne Druck durch einen verlorenen Krieg – durch Akzeptanz auf Seiten der in der Sowjetunion dominierenden russischen Seite. Dabei hätte in der Ausgestaltung der Trennungsbedingungen von der Ukraine auch anders entschieden werden können und beispielsweise die Krim als Teil Russlands eingeordnet werden können. Auch hätte die Sowjetunion der Ukraine Neutralität als Voraussetzung für Unabhängigkeit abverlangen können.
  9. Neutralität als Voraussetzung für eine eigene, von Russland akzeptierte Staatlichkeit ist z.B. 1941 für Finnland und nach dem 2. Weltkrieg für Österreich durch die russische Seite durchgesetzt worden.
  10. Russland hat die Wiedervereinigung Deutschlands, die bei Frankreich und Großbritannien zunächst nicht auf große Akzeptanz gestoßen ist, aus eigenen Stücken akzeptiert – wie auch die Staatlichkeit der Ukraine und vieler anderer Republiken innerhalb der UdSSR. Ich bin der Politik und den Menschen in Russland gegenüber persönlich sehr dankbar für diese historisch ungewöhnliche Großzügigkeit. Diese Großzügigkeit ist eng mit dem Namen des damaligen Präsidenten der Sowjetunion, Michael Gorbatschow, verbunden. Er wurde für seinen Einsatz für die Beendigung des Kalten Krieges 1990 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
  11. Russland hatte im Zuge der deutschen Wiedervereinigung, die von russischer Seite freiwillig und für alle Beteiligten sehr überraschend akzeptiert wurde, mündliche Zusagen erhalten, dass die NATO sich nicht ohne vorherige Absprache immer weiter nach Osten auf die russische Grenze hinzubewegen würde. Dies wurde später in den politischen Prozessen und in der öffentlichen Kommunikation nicht mehr so vermittelt. Die aktuellen Entwicklungen im Kontext einer öffentlich diskutierten, nicht definitiv ausgeschlossenen weiteren NATO-Osterweiterung in Richtung Ukraine sieht Russland, wohl auch aufgrund historischer Erfahrungen mit brutalem militärischem Druck aus dem Westen in mehreren großen Kriegen, wohl ebenso aufgrund der erkennbaren zunehmend stärkeren Westorientierung der Ukraine als Bedrohung und ist nicht bereit, dies zu dulden.
  12. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die USA ähnlich ablehnend reagiert haben, als die Sowjetunion 1962 Raketenstellungen auf Kuba installiert hat. Die USA waren nicht bereit, dies so nahe an ihrem Territorium zu dulden. Russland hat seine Waffensysteme letztlich aus Kuba zurückziehen müssen. Die Welt stand damals am Rande eines Atomkriegs.
  13. Die USA haben als Supermacht, wie Russland, ihr eigenes Verhalten immer wieder nach eigenem Interesse ausgestaltet, gegebenenfalls auch gegen das Völkerrecht. Im langen Prozess der Entwicklung der USA gab es bei aller Unterschiedlichkeit in den Details auch eine starke Analogie zur heutigen Situation in der Krim, nämlich bei dem „Wechsel“ von Texas weg von Mexiko hin zu den Vereinigten Staaten. Das gilt auch für die dann nachfolgende weitere massive Ausweitung des Territoriums der USA zu Lasten des „Nachbarn“ Mexiko (vgl. Anhang).
  14. Wie kann es nun weitergehen? Nachdem jetzt beide Kriegsparteien erhebliche Verluste haben hinnehmen müssen, auf Seiten der Ukraine verbunden mit großem Leiden der Zivilbevölkerung, gibt es eine Chance auf einen Frieden, der die Eigenstaatlichkeit der Ukraine nicht in Frage stellt, zugleich die seit Auflösung der UdSSR immer wieder artikulierten russischen Anliegen/Forderungen ernst nimmt und potenziell der Ukraine als Staat eine tragfähige Perspektive eröffnet.
  15. Die Erfahrungen des Krieges haben bei der Bevölkerung der Ukraine den nationalen Zusammenhalt und die Zustimmung zur staatlichen Einheit, auch in Abgrenzung zu Russland, deutlich erhöht. Das ist eine gute Basis für die Zukunft des Landes nach einem tragfähigen Friedensvertrag, zu dem es hoffentlich in den nächsten Monaten kommen wird.
  16. Eine Friedenslösung für die Ukraine sollte, verbunden mit den Erfahrungen durch den Kriegsverlauf, die Motivation Russlands zu weiteren Gebietsansprüchen gegenüber seinen Nachbarn zumindest erheblich reduzieren.

Das gesamte Video zum Vortrag im Rahmen der 10. Königsbronner Gespräche finden Sie unter diesem Link. Die Publikumsfrage, sowie die darauf folgende Äußerung zum Ukraine-Konflikt finden Sie hier.

Weitere Informationen:

Bildquelle: © Thomas Klink / T. Klink – Fotografie